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Karl Heinrich Finkernagel

Karl Heinrich Finkernagel ist am 29. August 1869 in Altenstadt bei Gießen geboren. Heute gehört Altenstadt zum Wetteraukreis.1 Am 22. Juni 1904 heiratete er in Frankfurt2 die Köchin Karoline Wilhelmine (Mina) Mayer aus Untersteinbach (Kreis Öhringen).3 Die beiden hatten einen Sohn, Karl Friedrich, der wahrscheinlich 1905 geboren ist. Die Familie zog 1907 in die Moltkeallee 58 (die nach dem Zweiten Weltkrieg in Hamburger Allee umbenannt wurde4). Sie wohnten im 1. Stockwerk.

Karl Finkernagel war Tapezierer und Polsterer. „Er hatte eine eigene kleine Tapezierwerkstatt und erledigte die anfallenden Arbeiten ohne fremde Hilfe.“5 Bei seiner Vernehmung am 15. Dezember 1936 erklärte er, wie er Bibelforscher geworden war:

„Ich bin Ende 1918 oder Anfang 1919 durch öffentliche Plakatanschläge auf die I.B.V. [Internationale Bibelforscher Vereinigung] aufmerksam geworden und habe die Versammlungen dann regelmäßig besucht [...] Etwa im März oder April 1925 wurde ich [...] getauft.“6

Bald übernahm er die Leitung des Bezirks Bockenheim-Westend der dortigen Bibelforscher. Das bedeutete für ihn, sich darum zu kümmern, dass dort die Bibelforscher und Interessenten die biblische Literatur erhielten.

Am 15. Dezember 1936 wurde er verhaftet. Bei einer Hausdurchsuchung fand man einen Karton Bibelforscherliteratur. „Finkernagel wurde zwecks weiterer Aufklärung zur Stapo sistiert.“7 Bereits am 16. Dezember wurde festgehalten, dass er in Haft bleiben müsse, da eine Strafe zu erwarten sei.8

Da man bei ihm Unterlagen mit Namen gefunden hatte, wurde er ausführlich dazu befragt. Es waren Notizen über seine Aufgabe, die Zeitschriften anderen Glaubensangehörigen regelmäßig zukommen zu lassen. Zu seiner Einstellung zum Staat erklärte er, „dass ich bemüht bin, die Gesetze des Staates zu achten, soweit es meine biblische Überzeugung zulässt“.9 Nach seiner Vernehmung wurde Karl Finkernagel in Schutzhaft genommen und in das Polizeigefängnis überführt, gemäß der „Einlieferungsanzeige“ um 6 Uhr morgens.10

Die Staatspolizeistelle schrieb einen Bericht über seine Vernehmung. Darin wurde festgestellt: „Finkernagel ist ein fanatischer Zeuge Jehovas, der in die Ideen der Bibelforscher sehr tief eingedrungen ist. Er gibt zu, vor dem Verbot der IBV (Internationale Bibelforscher-Vereinigung) ein rühriger Bruder gewesen zu sein.“11 Bei der Hausdurchsuchung in seiner Wohnung hatte man 35 Kilogramm religiöse Literatur von Jehovas Zeugen gefunden. Ihm wurde zur Last gelegt, weiter an seinem Glauben festzuhalten und entsprechend aktiv zu sein. Deshalb wurde empfohlen: „Es wäre zweckmäßig, in diesem Falle einmal ein Exempel zu statuieren und F. eine angemessene Strafe zu erteilen, die etwa heute noch illegal arbeitenden IBV.-Anhängern eine scharfe Warnung sein kann.“12

Karl Finkernagel saß bereits vier Monate im Gefängnis Frankfurt-Preungesheim in der Abteilung 4, Zelle 129, ein, hatte aber immer noch keine Anklageschrift erhalten. Deshalb wandte er sich am 20. April 1937 schriftlich an den Untersuchungsrichter.13 Am 24. Mai 1937 schrieb er erneut an den Untersuchungsrichter. Offenbar war durch die lange Ungewissheit und die Umstände auch seine Gesundheit angegriffen. Er hatte durch ein Gespräch vor seiner Zellentür mitbekommen, dass seine Überführung ins Gerichtsgefängnis Hammelsgasse bereits zum zweiten Mal abgesagt worden war. Er wartete bereits seit 5 Monaten auf sein Gerichtsverfahren. Nun bat er, nach Hause entlassen zu werden, dort könne er erst richtig arbeiten, hätte „die Gedanken aus dem Kopf und frische Luft, [...] da erhole ich mich sehr rasch. Ich erkläre hiermit, daß ich sowohl für meine Gesundheit wie für strengste Verschwiegenheit jede Verantwortung übernehme.“14 Weiter schrieb er:

„Sollten Sie aber absolut mein Leben haben wollen, so haben Sie u. alle Beteiligten auch die Verantwortung vor dem höchsten Richter, dem allmächtigen Gott Jehova. Ich hasse niemand u. will auch keine Rache, denn der Herr spricht: die Rache ist mein, ich will vergelten u. diese Vergeltung fällt schwer aus. Wenn Sie also etwas wiedergutmachen wollen und wollen einen Meuchelmord an einem unschuldigen Menschen verhüten, dann tun Sie es bitte sofort.“

Am 30. Juni 1937 fand um 11.30 Uhr in der Heiligkreuzgasse 34 im Schwurgerichtssaal 85 (Altbau) die Hauptverhandlung des Sondergerichts statt.15 Das Urteil lautete auf einen Monat Gefängnis, was durch die 6-monatige Untersuchungshaft bereits bei weitem abgegolten war. Deshalb wurde er noch am selben Tag entlassen, nach Hause kam er aber nicht. Er wurde der Polizei übergeben.16 Diese sorgte dafür, dass er ins KZ Buchenwald kam, wo er am 7. August 1937 um 14.00 Uhr eingeliefert wurde.17 Seine Häftlingsnummer dort war 1560. Gemäß einer Karteikarte wurde er bereits am 30. Juli 1937 in Buchenwald registriert.18 Somit gehörte Karl Finkernagel zu den ganz frühen Häftlingen des KZ Buchenwald, das erst im Juli 1937 von Lichtenburg-Häftlingen errichtet worden war. Nur zwei Tage zuvor, am 28. Juli 1937, hatte man den anfänglichen Namen des KZ (K.L. Ettersberg) in den bekannten Namen „K.L. Buchenwald/Post Weimar“ geändert.19

Nach wenigen Tagen, am 24. August 1937, verstarb Karl Finkernagel. Der Eintrag in der Karteikarte lautet: „F. ist am 24. 8. 1937 gegen 9.30 h im Häftlingsrevier an Blut- und Kreislaufschwäche infolge Lungenentzündung gestorben.“20 Er war knapp 68 Jahre alt. In der Sterbeurkunde,21 ausgestellt von der Gemeinde Hottelstedt, ist als Sterbeort „Hottelstedt K L Bu“ eingetragen.22

Seine Witwe stellte nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes einen Wiedergutmachungsantrag. In der Akte23 befinden sich mehrere eidesstattliche Erklärungen, in denen bezeugt wird, dass Karl Finkernagel verhaftet wurde, weil er Bibelforscher bzw. Zeuge Jehovas war, und im KZ Buchenwald sein Leben verlor. Ein Mitgläubiger und selbst KZ-Überlebender, Valentin Steinbach, füllte noch einen Fragebogen über die Verfolgung der Zeugen Jehovas24 für ihn aus: Er schrieb, dass Misshandlungen und schwere Arbeit seinen Tod kurz nach seiner Deportation nach Buchenwald herbeigeführt hatten.

Durch den Stolperstein in der Hamburger Allee 58 wird an Karl Bernhard Finkernagel erinnert, der auch angesichts des Todes seiner Überzeugung treu blieb.

Am 18. Mai 2015 wurde dieser Stolperstein vor dem Haus Hamburger Allee 58 verlegt. Die Patenschaft wurde von Herrn Stephen D. Ferris aus New Jersey, USA, übernommen.

Foto: Privat

1 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Altenstadt_(Hessen) (letzter Zugriff: 04.04.2015). Auskunft des Gemeindearchivs 

   Altenstadt: „Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir über Herrn Karl Heinrich Finkernagel in den Unterlagen des 

  Einwohnermeldeamtes/Bürgerbüro als auch in den Heiratsbüchern des Standesamtes nichts finden konnten. Die 

  Geburtenbücher fangen erst 1876 an“ (Mail vom 22.04.2015).

2 Vgl. Heiratsurkunde Hess. Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), Abt. 518, Nr. 286, Bd. 1.

3 Heutige Gemeinde Pfedelbach. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Oberamt_%C3%96hringen (letzter Zugriff: 

  24.05.2015).

4 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Hamburger_Allee_(Frankfurt_am_Main) (letzter Zugriff: 04.04.2015).

5 Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (IfS), Akten NS-Verfolgte, Sign.-Nr. 1.487.

6 HHStAW, Abt. 461, Nr. 7697.

7 Ebd.

8 Vgl. ebd.

9 Ebd.

10 Ebd.

11 Ebd.

12 Ebd.

13 Ebd.

14 Vgl. HHStAW, Abt. 461, Nr. 7697, Brief vom 24.05.1937.

15 Vgl. ebd.

16 Vgl. HHStAW, Abt. 409, Nr. 3/4.

17 Vgl. Archiv des Internationalen Suchdienstes Bad Arolsen (ITS).

18 Vgl. ITS, Dokument No. 5860639#1.

19 Vgl. http://www.buchenwald.de/nc/896/ (letzter Zugriff: 24.05.2015).

20 ITS, Dokument No. 5860639#1.

21 Vgl. HHStAW, Abt. 518, Nr. 286 Bd. 1.

22 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Hottelstedt (letzter Zugriff: 24.05.2015). Das KZ Buchenwald befand sich am 

   Westhang des Ettersbergs auf Hottelstedter Flur. Das Gelände wurde 1938 nach Weimar eingemeindet.

23 Vgl. IfS, Nr. 1.486, NS-Verfolgte; HHStAW, Abt. 518, Nr. 286, Bd. 1.

24 Vgl. Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa (JZD).