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Ludwig Eichhorn

Ludwig Heinrich Eichhorn wurde am 31. Oktober 18991 in Büdesheim2 geboren. Dort wuchs er auch auf.

Anfang der 1920er Jahre war er mit einer Arbeiter-Jugendgruppe, der er sich angeschlossen hatte, unterwegs mit der Bahn. Im Zug erhielt er von einer Bibelforscherin die Broschüre „Millionen jetzt Lebender werden nie sterben“.3 Wie diese Abhandlung auf ihn wirkte, konnte er sich etwa 50 Jahre später nicht mehr erinnern.4 Aber „einige Jahre später löste er sich enttäuscht von der Politik“.5

Seit Anfang November 1925 war er als kaufmännischer Angestellter bei der Firma Hochtief in Frankfurt beschäftigt. Er arbeitete dort als Magazinverwalter des Bauhofes in der Gutleutstraße 310, ebenfalls in Frankfurt.6

Am 11. März 1926 heiratete Ludwig Eichhorn Elisabeth Filz. Im gleichen Jahr erhielt er Besuch von einer Bibelforscherin, die ihm die Zeitschrift „Das goldene Zeitalter“7 zu lesen gab. Von da an las Ludwig Eichhorn sowohl diese Zeitschrift als auch andere Literatur zur Bibel, z. B. die sieben Bände der „Schriftstudien“8. Mit seiner Ehefrau Elisabeth teilte er, was er gelesen hatte, und erklärte ihr, dass er für sich die Wahrheit gefunden hatte. Seit 1929 besuchte er regelmäßig die Gottesdienste der Bibelforscher, trat aus der evangelischen Kirche aus9 und ließ sich am 31. August 1931 als Zeuge Jehovas10 taufen11. Mittlerweile war sein erster Sohn Dieter geboren. Seine Ehefrau Elisabeth ließ sich 1932 als Zeugin Jehovas taufen. 1934 kam sein Sohn Lothar zur Welt.

Bereits vor seiner Taufe war Ludwig Eichhorn missionarisch tätig. Das „Photodrama der Schöpfung“ erlebte er zweimal im Frankfurter Hippodrom12. Die überfüllte Halle musste polizeilich gesperrt werden.13 In der Gemeinde kümmerte er sich um die „Zeitschriften-Verwaltung“. Er sorgte dafür, dass seine Glaubensbrüder die Ausgaben des „Goldenen Zeitalters“ zur Verfügung hatten, um sie den etwa 2.500 regelmäßigen Lesern zu überbringen.

Gemeinsam mit anderen Glaubensbrüdern und -schwestern missionierte er regelmäßig im Stadtgebiet Frankfurt, besonders an Werktagen und im Winter. In der wärmeren Jahreszeit fuhr man in weiter entfernt gelegene Gegenden. Darüber berichtete Ludwig Eichhorn: „Um den sonntäglichen Felddienst außerhalb Frankfurts durchzuführen, verließen wir morgens um 6 Uhr unsere Wohnungen, fuhren aufs Land, gingen zwischen 9 und 10 Uhr in den Einsatz. Abends von 16 Uhr an wurden wir wieder in den Lastwagen aufgenommen, so um 18 Uhr bis 19 Uhr waren wir wieder zu Hause. Während unserer Tätigkeit von Haus-zu-Haus pausierten wir etwas und futterten aus der Hand.“14 Etwa 40 Gemeindeglieder beteiligten sich an diesen weiteren Fahrten. Dabei wurden neben den Bewohnern der Orte auch das Kloster Ilbenstadt in der Wetterau besucht. Über die Umstände der Fahrt erzählte er: „Dadurch, daß wir im offenen 3tonnen Lastwagen die Felddienstfahrten, bis zu 100 Kilometer am Tage, in Hin- und Rückfahrten zurücklegten, machte uns der Straßenstaub viel zu schaffen. Es war eine unserer ersten Handlungen wenn wir an unseren verschiedenen Einsatzorten ankamen, daß wir, wie Hühner, den Staub erst aus unseren Kleidern ausschüttelten.“15

Ludwig Eichhorn

Foto: Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa

Ludwig Eichhorn (links) mit Ehefrau Elisabeth und anderen auf Missionsfahrt.

Foto: Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa

1933 – nach der Machtergreifung Hitlers - wurden Jehovas Zeugen verboten. Ludwig Eichhorn hatte vorausschauend, die Verteiler des „Goldenen Zeitalters“ durch Nummern getarnt. Dadurch waren die Zeugen Jehovas, die die Zeitschriften regelmäßig verteilten, nicht zu identifizieren. Dies erwies sich von großem Vorteil bei der Beschlagnahme des Versammlungsraumes.16 Auch am Arbeitsplatz nahmen die Schwierigkeiten zu. Am 1. Mai 1933 sollte er bei der Parade mit dem Firmenschild in der Hand seine Kollegen anführen. Dies lehnte er ab, was zu „Spannungen mit der Firmenleitung führte“17. Seine Ablehnung des Hitler-Grußes machte für ihn die Situation unerträglich.

1934 wurde Ludwig Eichhorn zum ersten Mal im Polizeipräsidium verhört.18 Er bezeichnete diese Vernehmung vor der Kripo als „angenehm, weil diese Beamten keine Gestapoleute waren“19. Er betätigte sich nun im Untergrund, bekam die mittlerweile verbotenen Druckschriften in den Briefkasten und traf sich weiterhin heimlich mit anderen Zeugen Jehovas. „Unsere Untergrundtätigkeit erlangte in der Verbreitung der Luzerner Resolution20 seinen Höhepunkt.“21 Es wurde sehr vorsichtig vorgegangen Mit „behandschuhten Händen“ wurde die Resolution „brieflich fertig gemacht“. Er warf die Umschläge dann sowohl in die Briefkästen der Häuser als auch in den Postbriefkasten für den Versand mit der Post.22

Danach traf in ganz Deutschland eine Verhaftungswelle Jehovas Zeugen. Ludwig Eichhorn selbst wurde am Abend des 22. März 1937 in seiner Wohnung festgenommen. Darüber berichtete er: „Die beiden Gestapos wollten […] nicht zulassen, dass ich nochmals die schlafenden Kinder betrachten konnte. Da ging sie [seine Ehefrau] über ihre sonst stille Art hinaus und die Gestapo gestattete, dass ich mir die Kinder zum Abschied nochmals betrachten konnte.“23

Am nächsten Tag, den 23. März 1937 wurde er vernommen. Gleich zu Beginn erklärte er: „Ich verrate keine Glaubensgeschwister“, obwohl er unter Druck gesetzt wurde, „im Interesse ihrer Familie die Wahrheit zu sagen“.24 Als Begründung gab er an: „Ich will mein Gewissen vor Gott nicht belasten!“25 Auf die Frage, warum er den „Deutschen Gruß“ ablehne, entgegnete er, „weil ich glaube, auf Grund des Bundes mit Gott, dass es der Bibel widersprechen würde“.26 Die Frage, warum er es ablehne, sein Vaterland mit der Waffe in der Hand als Soldat zu verteidigen, beantwortete er: „Weil das 5. Gebot sagt: ‚Du sollst nicht töten!‘“27 Die Vernehmung wurde von den verhörenden Beamten zusammengefasst: „Bei dem Beschuldigten handelt es sich um einen äußerst fanatischen Verfechter für die Irrlehre der IBV“ (Internationale Bibelforscher Vereinigung).28

Am 24. März 1937 erging Haftbefehl gegen ihn mit der Begründung: „Bei der Einstellung des Beschuldigten ist mit der Tatfortsetzung zu rechnen.“29 Um 15 Uhr erfolgte seine Einlieferung in das Gefängnis Frankfurt-Preungesheim. „Wegen Überfüllung des Untersuchungsgefängnisses Hammelsgasse in Ffm. kamen damals die Untersuchungsgefangene teilweise nach Preungesheim.“30 Ludwig Eichhorn saß dort in der Abteilung BII Zelle 63.31 Gut zwei Wochen später, am 9. April, wurde beim Sondergericht Frankfurt Anklage gegen ihn erhoben32. Ihm war es wichtig, auch während der Haft in der Bibel zu lesen, deshalb stellte er am 1. Juni 1937 an den „Herrn Untersuchungsrichter“ den Antrag: „Erlauben Sie mir bitte den Bezug einer Bibel (Luther Übersetzung) aus dem Verlag der Inneren Mission Ffm. Dankend, Ludwig Eichhorn.“33

Bereits am 30. April 1937 wurde er von der Fa. Hochtief entlassen.34 Am 22. Mai 1937 schickte sein bisheriger Arbeitgeber einen Brief „An das Strafgefängnis Preungesheim“ mit der Bitte, „den anliegenden Brief an Herrn Ludwig Eichhorn gefl. weiterleiten zu wollen“.35

Der Oberstaatsanwalt teilte der Direktion des Gefängnisses in Frankfurt-Preungesheim mit, dass am 23. Juni 1937, um 11.30 Uhr die Verhandlung vor dem Sondergericht stattfindet. Deshalb solle dafür gesorgt werden, ihn als Angeklagten dort vorzuführen.36 Erst am 30. Juli 193737 fiel das Urteil: drei Monate Gefängnis. Durch die erlittene Untersuchungshaft war diese Strafe längst verbüßt. Am nächsten Tag wurde er aber nicht frei gelassen, sondern der Polizei übergeben. Bis zum 1. September 1937 wurde er im Gefängnis Frankfurt-Preungesheim in Haft gehalten. Am 2. September transportierte man ihn nach Zwischenstopps in den Gefängnissen Kassel und Halle38 in das KZ Buchenwald. Er erhielt die Häftlingsnummer 33639. Dies war ein deutlicher Hinweis darauf, dass er zu den allerersten Häftlingen im neu errichteten Lager40 gehörte. Zunächst war er im Block 441 oder Block 1042 eingesperrt. Er musste mehrere Monate in der Strafkompanie arbeiten. Über die Haft der Bibelforscher in der Strafkompanie heißt es in „Der Buchenwald-Report“: „Bis zum Herbst 1937 war die Zahl der Bibelforscher in Buchenwald auf ca. 270 gestiegen, […] Unmenschliche und schimpfliche Behandlung ist das Los dieser Menschen gewesen; die härtesten Arbeiten wurden ihnen aufgehalst. Im August 1937 wurde die Strafkompanie zusammengestellt.“43 Ludwig Eichhorn selbst gab an, dass er im Erd- und Straßenbau arbeiten musste44. Aus dem fachärztlichen Gutachten, das im Rahmen seines Wiedergutmachungsantrages angefertigt wurde, geht noch hervor, dass er in einem Steinbruch, mit Tragen schwerer Lasten, im Wegebau sowie mit Schachtarbeiten (bei Kanalisationsanlagen) und Leichentransporten beschäftigt war.45 Über die Arbeiten im Steinbruch heißt es im „Buchenwald-Report“: „Bei einer Inspektion der Innenkommandos durch den Lagerführer wurden sämtliche Bibelforscher herangezogen und in den Steinbruch geschickt […] Es gab während dieser Zeit keine Revierbehandlung für Bibelforscher. Nur der Glaube an die gerechte göttliche Vergeltung hat uns getragen und erhalten.“46 Über das Tragen schwerer Lasten wird berichtet: „Die Arbeit war entsetzlich schwer. Mit Tragen, die oft mit mehr wie 1 1/2 Zentner beladen waren, mußten wir Laufschritt machen und wurden dabei noch mit Knüppeln angetrieben. Wir arbeiteten so von früh bis abends, auch an Sonntagen. Wenn für die anderen Häftlinge Sonntag mittags Arbeitsschluss war, mußte die Strafkompanie bis abends 7 oder 8 Uhr auf dem Appellplatz stehen, und bekam nichts zu essen.“47

Ab 1939 bekam Ludwig Eichhorn eine andere, leichtere Arbeit. In der Bekleidungskammer war er als Buchhalter eingesetzt. Er „wurde am 20. April 1939 dem Kdo. [Kommando] Kdtr.-Bekleidungskammer zugeteilt und hat dort als Kammerarbeiter und später als Buchführer gearbeitet, nach den Vergrößerungen der Werkstätten wurde er als Vorarbeiter des Kdo. eingesetzt, 1940 wurde er Kapo dieses Kommandos“.48 Auch aus dem Archiv der Gedenkstätte Buchenwald ist zu erfahren, dass er „spätestens ab 1941 im Arbeitskommando 78 (=SS-Bekleidungskammer); hier zunächst als Kalfaktor, ab 1944 vermutlich als Kapo“ beschäftigt war.49

Ludwig Eichhorn schrieb 1970 in einem Bericht über diese Zeit, dass er als Not-Sachbearbeiter in der SS-Bekleidungskammer arbeitete. Zum 30. April 1941 stellte er turnusgemäß wieder eine Anforderung für Bekleidung für die SS zusammen, diese wurde aber zurückgenommen. Die nächste Anforderung einen Monat später wurde ebenfalls zurückgenommen. Der Oberscharführer flüsterte ihm zu: „Wir sind auf dem Textilsektor erschöpft.“50 Als er bemerkte, was er gerade einem Gefangenen gesagt hatte, „wurde er sehr erregt und bat mich: dies niemand weiter zu sagen!“51 Ludwig Eichhorn bemerkte: „Somit erfuhren wir, aus dem Mund des Gegners, daß bereits 1941 der Pleitegeier über dem Hitlersystem, versorgungsmäßig, schwebte.“52

Welchen Schikanen insbesondere die Bibelforscher (Jehovas Zeugen) im KZ Buchenwald immer wieder ausgesetzt waren zeigt ein Beispiel vom 11. Januar 1942: „Alle Bibelforscher [wurden] ans Tor gerufen, weil sie sich einmütig geweigert hatten, sich an der Wollspende für die deutschen Truppen an der Ostfront zu beteiligen. Das Urteil des Rapportführers lautete wie folgt: ‚Ihr Staatsverbrecher, ihr Himmelshunde, heute werdet ihr unter freiem Himmel (es waren 20 Grad Kälte) bis Einbruch der Dunkelheit arbeiten. Sämtliche Unterkleidung wird sofort ausgezogen!‘ Was dann auch geschah. Als der Block am Abend einrückte, mußten sämtliche Lederschuhe abgegeben und dafür Holzschuhe eingetauscht werden.“53 Die Beschimpfungen „Himmelskomiker“ oder „Bibelwürmer“ mussten sie sich sehr oft anhören.54

Im Juli 1942 erkrankte Ludwig Eichhorn an schwerer Angina. Über die „Behandlung“ der Erkrankung erzählte er: „Nach 14tägigem Aufenthalt im Revier, wurde ich ungeheilt, mit Eiter im linken Unterschenkel entlassen. Ich mußte, eingehakt bei zwei Mitgefangenen, mit hochgehaltenem linken Unterschenkel zur Arbeit ausrücken.“55 Im August hatte sich im rechten Bein eine Venenentzündung gebildet, die ebenfalls nicht geheilt wurde. Im linken Unterschenkel „saß weiter der Eiter“. Mithäftlinge, die in der Heilkunde bewandert waren, gaben ihm Rat und Hinweise, so half er sich z. B. mit gewaschenem Ton weiter.56

Um den Zusammenhalt der Zeugen Jehovas im KZ zu erschweren, wurden sie ab November 1943 nicht mehr zusammen im „Bibelforscherblock“ untergebracht. Dieser wurde aufgelöst und die Häftlinge auf alle Blöcke verteilt.57

Über eine weitere gefährliche Situation im April 1944 berichtet Ludwig Eichhorn: Am 17. April 1944, morgens um 6 Uhr, wurde er von seinem Arbeitskommando weg zum Lagertor gerufen und in Haft genommen. Er wurde in den SS-Kommandanturbunker eingesperrt mit der Bemerkung: „Rinn du Sau!“58 Er blieb 5 Tage in einer Bunkerzelle des Lagerarrestbaus, ohne zu wissen, warum er dort eingesperrt war. In diesen Tagen betete er „bei Tag und Nacht, immer wieder: Himmlischer Vater, ich weiß nicht, warum ich hier festsitze […] beherrsche mich bitte durch deinen heiligen Geist so, daß ich nicht ins Grübeln verfalle und dadurch kraftlos werde.“59

Bei einer Revision aller Bunkerzellen fiel auf, dass Ludwig Eichhorn dort ist. Daraufhin wurde eine Untersuchung und ein Verhör angeordnet. Er erfuhr, dass er der Anstiftung zur Neuorganisation der Bibelforscher beschuldigt wurde.60 Wegen des distanzierten Verhaltens der Bibelforscher Einzelnen gegenüber, die sich vermeintlich nicht bibeltreu verhielten, vermutete die Lagerleitung eine organisierte Absprache. Beim Verhör konnte geklärt werden, dass jeder beim Essen von Blutwurst eigenverantwortlich handelte und keinen Anführer brauchte. Das erstellte Protokoll wurde nach Berlin gemeldet und wenige Stunden später kam er aus dem Arrestbunker frei und zu seinem Arbeitskommando zurück. Dies sprach sich schnell im ganzen Lager herum. Alle hatten geglaubt, dass er als „Wiedergründer der verbotenen IBV [Internationaler Bibelforschervereinigung], dem Verbotsgesetz gemäß, erledigt würde.“61 Tatsächlich waren Mitte April 1944 einige Bibelforscher in den Bunker gesperrt und die Anklage erhoben, im Lager Gruppenbildung durchgeführt zu haben.62

Ein Häftling, der beim Verhör von Ludwig Eichhorn im selben Raum anwesend war – er putzte den Raum –, hörte wie der SS-Scharführer sagte: „Wenn ich bedenke, wie dieser elende Bibelwurm den Obersturmführer beherrschte und ich das schreiben musste was dieser elende Bibelwurm sagte: ich hätte am liebsten meine Schreibmaschine […] auf das Hirn gehauen, daß er vor meinen Augen verreckt wäre.“63 Ludwig Eichhorn wusste, dass er schlecht gelitten war bei der inneren Häftlingslagerführung, weil er nicht bereit war zur Sabotage am Reichseigentum.64

Familie Eichhorn: Elisabeth Eichhorn mit den Söhnen Dieter (l.) und Lothar(r.)

Foto: Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa

Während all der Zeit durfte Ludwig Eichhorn nur kurze Briefe mit 25 Worten an seine Familie schreiben; auf Briefvordrucken für Bibelforscher die den Vermerk enthielten: „Der Schutzhäftling ist nach wie vor hartnäckiger Bibelforscher und weigert sich, von der Irrlehre der Bibelforscher abzulassen.“65 Für die Ehefrau war es eine sehr harte Zeit. Die Versorgung der beiden kleinen Jungen lag alleine in ihrer Hand. Da der Ehemann im KZ war und sie sich weigerte, der staatlich geforderten Scheidung zuzustimmen, wurde ihr jegliche Unterstützung entzogen. Sie war gezwungen die Wohnung in der Breubergstraße zu kündigen. Zunächst wohnte Elisabeth Eichhorn mit ihren beiden Söhnen bei Verwandten in Bad Vilbel. Ihre Geschwister haben sie auch finanziell unterstützt, auch wenn sie nicht den Glauben teilten. Schließlich fand Elisabeth Eichhorn Arbeit in der Küche und Kantine der Fa. Hochtief, dem ehemaligem Arbeitgeber ihres Ehemannes. In unmittelbarer Nähe fand die Mutter mit ihren beiden Söhnen eine kleine Wohnung in der Ulmenstraße 7. Der Sohn Lothar erinnert sich bis heute an diese schwierige Zeit.66 Mit 6 oder 7 Jahren erfuhr er, dass sein Vater wegen seines Glaubens im KZ ist. Häufig brachte die Mutter ihre beiden Söhne bei Verwandten unter, da sie für den Lebensunterhalt sorgen musste. Für die beiden Jungen bedeutete es, fast die gesamte Kindheit getrennt aufgewachsen zu sein. Lothar, der jüngere erinnert sich an sehr häufige Schulwechsel – Frankfurt, Wiesbaden, Windecken und Diez –, da er abwechselnd bei Verwandten untergebracht war. Sein drei Jahre älterer Bruder Dieter war außer bei Verwandten auch noch in der Kinderlandverschickung und nach schwerer Erkrankung zur Behandlung in Eppstein und Bad Nauheim.

Wenn der Sohn Lothar bei der Mutter in Frankfurt war, durfte er an ihrer Arbeitsstelle essen und auch dort spielen. Bei Bombenalarm musste die Familie immer in den Keller der Fa. Hochtief, nicht in den Keller der Wohnung. Das bedeutete, dass sie auch mitten in der Nacht dorthin rannten.

Am 22. März 1944 wurde die Wohnung durch einen Bombenangriff völlig zerstört67. Dadurch verloren sie Hausrat und Bekleidung. Da der Familie als Angehörige eines KZ-Insassen jegliche Unterstützung verweigert wurde, waren sie gezwungen, sich zu verschulden.68 Nach dem Verlust der Wohnung fanden sie Unterkunft bei Onkel und Tante (Frankfurt, Im Burgfeld 2). Dort blieben sie bis der Vater aus dem KZ zurück kehrte.69

Als sich das Kriegsende abzeichnete, wurde noch versucht, das KZ Buchenwald zu räumen. Etwa die Hälfte der Häftlinge wurde auf einen Todesmarsch geschickt, so auch der Frankfurter Oscar Krieg. Sehr viele von ihnen überlebten diese Tortur nicht. Ludwig Eichhorn gehörte zu den Gefangenen, die noch in Buchenwald waren und dort die Befreiung erlebten. Die verbliebenen Zeugen Jehovas hatten erwirkt, dass sie in der frei gewordenen „Russenbaracke“ einziehen durften. Am 11. April, den letzten Stunden unter SS-Bewachung, hatten sie sich in der Baracke mit Gedanken aus der Bibel gestärkt. Währenddessen „war der letzte SS-Posten vom Turm 2 verschwunden. Unter Tränen und dankbaren Herzen blickten wir zu Jehova empor“, berichtet ein anderer Überlebender aus Frankfurt, Adolf Krämer, über den Tag der Befreiung.70

Innerhalb der nächsten vier Wochen verließen die meisten den Ort des Leidens. Ludwig Eichhorn war bis mindestens zum 24. April 1945 in Buchenwald, und „beabsichtigte, im Anschluss in seine Heimatstadt Frankfurt zurückzukehren“.71 Bei seiner Entlassung bekam er einen Ausweis, eine „Vorläufige Identitätskarte“, die ihm bescheinigte, dass er ab dem 22. März 1937 bis 11. April 1945 (im Konzentrationslager Buchenwald) inhaftiert war.72 Auch die „Frankfurter Presse“ kündigte in ihrer Ausgabe vom 10. Mai seine Rückkehr an. Dort hieß es auf Seite 2 unter der Überschrift: „Heimkehr aus der Hölle“: „Die folgenden Insassen des Konzentrationslagers Buchenwald werden, wie die ‚Frankfurter Presse‘ erfährt, in absehbarer Zeit zurückerwartet.“ In einer langen Liste von Rückkehrern sind 12 Zeugen Jehovas genannt, darunter auch Ludwig Eichhorn, seine Wohnung wird mit „Im Burgfeld 2“ angegeben. Am Ende des Artikels wurde noch bekannt gegeben: „Die genannten politischen Häftlinge wurden im Hauptlager Buchenwald aufgefunden. Die Listen der in den Außenlagern befindlichen Häftlinge können erst später erscheinen.“73

Er selbst beschrieb seine Befreiung: „Im Frühjahr 1945 war es aus.“74 „Im Mai 1945 kehrte ich aus dem KZ zurück und traf meine Familie in guter Form vor.“75 Seine Ehefrau Elisabeth Eichhorn hatte in der Abwesenheit des Ehemannes und Vaters für die beiden Söhne so gut, wie es ihr in dieser Zeit möglich war, gesorgt, sodass sich die beiden auch für den Glauben entschieden, für den der Vater so lange Jahre im KZ war.

Sonderausweis für Verfolgte, ausgestellt am 14. Mai 1945 für Ludwig Eichhorn. Die Häftlingsnummer 336 zeigt, dass er zu den ganz frühen Häftlingen im KZ Buchenwald gehörte.

Foto: Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa

Ludwig Eichhorn begann umgehend damit, wieder für seine Familie zu sorgen. Er konnte in seine alte Firma zurückkehren. Darüber hieß es in einer Bescheinigung, die ihm sein Arbeitgeber ausstellte: „Nach Entlassung meldete er sich am 16.5.45 zurück und ist bei uns seit diesem Tage wieder tätig. Der Haftaufenthalt vom 23.3.37–15.5.45 wurde auf die Betriebszugehörigkeit angerechnet.“76 Auch stellte er Wiedergutmachungsanträge, nicht nur für sich, auch für seine Ehefrau, die während der Haft des Mannes ohne Unterstützung für die Kinder sorgte. Sie war ebenfalls gesundheitlich angeschlagen. Sein Urteil des Sondergerichts wurde am 28.12.1949 vom Landgericht Frankfurt aufgehoben.77 Es folgten noch viele Anträge, die nur teilweise bewilligt wurden. Auch die erlittenen gesundheitlichen Folgen wurden in einem Gutachten nicht gewürdigt. Es hieß dort: „Falls die angegebene Art der Verfolgung beweismässig unterbaut ist, kann erstaunlicherweise nur eine geringe Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Einwirkung der Haft oder Verfolgung festgestellt werden; keinesfalls aber mehr als 20%.“78

Von all diesen Schwierigkeiten ließ sich Ludwig Eichhorn nicht abhalten, weiter aktiv in seiner Gemeinde tätig zu sein. Auch spendete er seinen Mitbürgern Trost, den sie so dringend nach dem schrecklichen Krieg benötigten. Als KZ-Überlebendem, der sich nicht an dem Krieg beteiligt hatte, hörte man ihm gern zu. Außerdem kümmerte er sich wie ein Vater um einen Jugendlichen, dessen Vater als Jude im KZ umgekommen war. Dieser berichtete: „Er nahm sich meiner an, hörte gut zu, korrigierte und ermutigte mich, mit allen Fragen konnte ich zu ihm kommen.“79

Ludwig Eichhorn starb am 30. Oktober 1975 in Frankfurt. Er war 8 Jahre und 1 Monat im Gefängnis, KZ und von Frau und Kindern getrennt. Seit dem 22. Juni 2017 erinnert ein Stolperstein in der Breubergstraße 26 in Frankfurt-Niederrad an seine Verfolgung wegen seines Glaubens.


1 Vgl. Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden [HHStAW] Abt. 461 Nr. 7689.

2 Büdesheim gehört seit 01.01.1971 zur Gemeinde Schöneck im Main-Kinzig-Kreis (Wetterau in Hessen). Vgl. Homepage der Gemeinde Schöneck schoeneck.de (letzter Login am 28.02.2017).

3 Vgl. Lebensbericht von Ludwig Eichhorn vom 21.01.1971, Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa (JZD).

4 Ebd.

5 Ebd.

6 Vgl. Bescheinigung der Fa. Hochtief vom 27.03.1950, HHStAW Abt. 518 Nr. 263.

7 Hg. von der Wachtturm-Gesellschaft, heute: „Erwachet!“.

8 Hg. von der Wachtturm-Gesellschaft.

9 Vgl. Vernehmung am 23.03.1937, HHStAW Abt. 461 Nr. 7689.

10 1931 haben die Bibelforscher den Namen „Jehovas Zeugen“ weltweit angenommen.

11 Vgl. Lebensbericht von Ludwig Eichhorn vom 21.01.1971, JZD.

12 Das Hippodrom stand an der Ecke Stresemannallee/Kennedyallee. Es war eine Reitsporthalle, die für verschiedene Veranstaltungen genutzt wurde. Heute befindet sich an dieser Stelle das Generalkonsulat der Volksrepublik China.

13 Vgl. Lebensbericht von Ludwig Eichhorn vom 21.01.1971, JZD.

14 Ebd.

15 Ebd.

16 Die Bibelforscher/Zeugen Jehovas hatten ihren ersten Königreichssaal (Gemeindesaal) in der Vilbeler Straße 4 (vgl. Adressbuch der Stadt Frankfurt von 1931 und 1933).

17 Vgl. Lebensbericht von Ludwig Eichhorn vom 21.01.1971, JZD.

18 Vgl. Lebensbericht von Ludwig Eichhorn vom 11.12.1970, JZD.

19 Vgl. Lebensbericht von Ludwig Eichhorn vom 21.01.1971, JZD.

20 Jehovas Zeugen verteilten die „Luzerner Resolution“ am 12.12.1936 um 17.00 Uhr zeitgleich im ganzen Reichsgebiet. Mit dieser Protestaktion machten sie die Öffentlichkeit auf die grausame Misshandlung der Zeugen Jehovas und anderer Verfolgtengruppen aufmerksam und forderten das NS-Regime in scharfen Worten auf, diese brutalen Übergriffe einzustellen. Eine zweite Aktion fand im Februar 1937 statt. Darauf folgte in Frankfurt eine Verhaftungswelle der Zeugen Jehovas in den ersten Märztagen 1937.

21 Vgl. Lebensbericht von Ludwig Eichhorn vom 21.01.1971, JZD.

22 Vgl. Lebensbericht von Ludwig Eichhorn vom 11.12.1970, JZD.

23 Vgl. Lebensbericht von Ludwig Eichhorn vom 21.01.1971, JZD.

24 Vernehmung vom 23.03.1937, HHStAW Abt. 461 Nr. 7689.

25 Ebd.

26 Ebd.

27 Ebd.

28 Bericht über die Vernehmung, HHStAW Abt. 461 Nr. 7689.

29 Vgl. HHStAW Abt. 461 Nr. 7689.

30 Vgl. Schreiben an die Wiedergutmachungsabteilung vom 30.11.1950, HHStAW Abt. 518 Nr. 263.

31 Vgl. Begleitumschlag für ausgehende Briefe vom 19.06.1936, HHStAW Abt. 409/4 Nr. 1392.

32 Ebd.

33 Vgl. Schreiben an den Untersuchungsrichter vom 01.06.1937, HHStAW Abt. 461 Nr. 7689.

34 Vgl. Bescheinigung für die Wiedergutmachungsbehörde vom 27.03.1950, HHStAW Abt. 518 Nr. 263.

35 Vgl. Schreiben Fa. Hochtief vom 22.05.1937, HHStAW Abt. 409/4 Nr. 1392.

36Vgl. Schreiben des Oberstaatsanwaltes vom 12.06.1937, HHStAW Abt. 409/4 Nr. 1392.

37 Vgl. Aufhebungs-Beschluss vom 28.12.1949, HHStAW Abt. 518 Nr. 263.

38 Vgl. HHStAW Abt. 518 Nr. 263.

39 Vgl. Mail von T. Jugl, Mitarbeiter im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald an Erika Krämer, vom 12.01.2017

40 Das KZ-Lager Buchenwald wurde mit Eintreffen der ersten 149 Häftlinge am 15.07. 1937 – 6 Wochen bevor Ludwig Eichhorn dort ankam – eröffnet (s. buchenwald.de [letzter Login 12.03.2017]).

41 Vgl. Mail von T. Jugl, Mitarbeiter im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald, an Erika Krämer, vom 12.01.2017.

42 Vgl. Mail von Heike Müller, Referat Nutzerservice des ITS Bad Arolsen, an Erika Krämer vom 13.02.2017.

43 Vgl. „Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar“, hg. von David A. Hackett, S. 212 f.

44 Vgl. HHStAW Abt. 467 Nr. 1970.

45 Vgl. Fachärztliches Gutachten, HHStAW Abt. 518 Nr. 263.

46 Vgl. „Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar“, hg. von David A. Hackett, S. 213.

47 Ebd., S. 215.

48 Vgl. Vgl. Mail von Heike Müller, Referat Nutzerservice des ITS Bad Arolsen, an Erika Krämer vom 13.02.2017.

49 Vgl. Mail von T. Jugl, Mitarbeiter im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald, an Erika Krämer, vom 12.01.2017.

50 Vgl. Bericht von Ludwig Eichhorn vom 06.12.1970, JZD.

51 Ebd.

52 Ebd.

53 Vgl. „Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar“, hg. von David A. Hackett, S. 214.

54 Vgl. „Konzentrationslager Buchenwald 1937–1945. Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung“, S. 71.

55 Vgl. HHStAW Abt. 467 Nr. 1970.

56 Ebd.

57 Vgl. „Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar“, hg. von David A. Hackett, S. 214.

58 Vgl. Bericht von Ludwig Eichhorn vom 06.12.1970, JZD.

59 Ebd.

60 Vgl. Mail von Heike Müller, Referat Nutzerservice des ITS Bad Arolsen, an Erika Krämer vom 13.02.2017.

61 Vgl. Bericht von Ludwig Eichhorn vom 06.12.1970, JZD.

62 Vgl. „Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar“, hg. von David A. Hackett, S. 214.

63 Vgl. Bericht von Ludwig Eichhorn vom 06.12.1970, JZD.

64 Ebd.

65 Vgl. „Konzentrationslager Buchenwald 1937–1945. Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung“, S. 70.

66 Gespräch Lothar Eichhorn mit Erika Krämer am 18.04.2017.

67 Frankfurt wurde am 18.03.1944 schwer bombardiert. Eine zweite Angriffswelle erfolgte am 22.03.1944. In dieser Nacht wurden auch das Goethehaus und der Römer zerstört.

68 Vgl. HHStAW Abt. 518 Nr. 263.

69 Gespräch Lothar Eichhorn mit Erika Krämer am 18.04.2017.

70 Vgl. „Geschichtsbericht des Adolf Krämer“ vom 30.01.1971, JZD.

71 Vgl. Mail von T. Jugl, Mitarbeiter im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald, an Erika Krämer, vom 12.01.2017.

72 Vgl. Ausweis, HHStAW Abt. 518 Nr. 263.

73 Vgl. „Frankfurter Presse“, Alliierten Nachrichtenblatt Nummer 4 vom 10.05.1945, S. 2.

74 Vgl. Bericht von Ludwig Eichhorn vom 06.12.1970, JZD.

75 Vgl. Bericht von Ludwig Eichhorn vom 21.01.1971, JZD.

76 Vgl. Bescheinigung der Firma Hochtief vom 27.03.1950, HHStAW Abt. 518 Nr. 263.

77 Vgl. Beschluss des Landgerichts vom 28.12.1949, HHStAW Abt. 518 Nr. 263.

78 Vgl. Gutachten, HHStAW Abt. 518 Nr. 263.

79 Gespräch Richard Sann mit Erika Krämer am 18.04.2017.