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Martin Bertram

Martin Bertram wurde am 13. April 1896 in Oberrad, heute Frankfurt-Oberrad geboren. Von Kindheit an war Martin Bertram bibelgläubig. Im Dezember 1914 las seine Mutter in der Zeitung die Ankündigung der Vorführung „Photo-Drama der Schöpfung“ (ein großer Lichtbilder- und Filmvortrag über die Harmonie von Bibel, Geschichte und Wissenschaft; herausgegeben und vorgeführt von der Wachtturm-Gesellschaft). 

Er erwarb und las verschiedene Veröffentlichungen der Bibelforscher (so nannten sich Jehovas Zeugen vor 1931) und ließ sich im Juni 1915 als Bibelforscher taufen. Zu dieser Zeit waren in Frankfurt am Main nur fünf Bibelforscher (Zeugen Jehovas) aktiv. Noch während des ersten Weltkrieges beteiligte sich Martin Bertram an der Missionstätigkeit von Haus-zu-Haus. Er erzählte: „Es war Krieg und die Tätigkeit war sehr eingeschränkt. Wir verteilten damals Traktate und Einladungen [für öffentliche Vorträge]. Ein besonderes Traktat war für Juden: `Die Stimme´ in jüdisch [Yiddisch].“ Bereits damals hatte er dadurch viel Kontakt mit der jüdischen Bevölkerung Frankfurts.

1925 lernte er seine Frau Hanna kennen, die in München Bibelforscherin war. Martin Bertram war seit 1922 selbständiger Bäckermeister in Oberrad. Ab 1927 besass er eine Bäckerei in Frankfurt in der Rohrbachstraße 58. 

1933 wurde er aufgefordert, die Bäckerei als „Deutsches Geschäft“ zu kennzeichnen, was bedeutete, dass Juden dort nicht mehr einkaufen durften. (Ab 1. April 1933 mussten Geschäfte als solche gekennzeichnet werden, seit Juni 1935 wurden dann Plakate mit der Aufschrift „Juden unerwünscht“ in den Geschäften aufgestellt). Dies lehnte er ab, weil er nicht, wie er sagte, „am Tod der Juden mitverantwortlich sein wollte“. Aufgrund dessen geriet er unter Beobachtung der Gestapo. Weil er seinem Gewissen folgte und sich konsequent weigerte dieses Schild in sein Geschäft zu stellen, war er 1935 gezwungen, seine Bäckerei zu verpachten. „Habe meine Bäckerei 1935 Dez. aufgegeben wegen Weigerung des Hitlergrußes + ‚Deutsches Geschäft‘, Einkommensausfall 28.000 Mark.“1 Unter Verkauf eines Teils des Inventars vermietete er die Bäckerei. Der Mietvertrag lief Ende 1940 ab und wurde von Martin Bertram nicht verlängert. 

Martin Bertram, 1920er Jahre

Foto: Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa

Martin Bertrams Bäckerei, um 1930

Foto: Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa

Backstube, um 1930

Foto: Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa

Im Jahr 1936 besuchte er einen Kongress der Zeugen Jehovas, der vom 4. bis 7. September in Luzern (Schweiz) stattfand. Bereits am 3. September erhielt er von seiner Frau ein Telegramm, dass die Gestapo bei ihm zu Hause in der Rohrbachstraße eine Hausdurchsuchung vorgenommen hatte.2 Am 11. September kehrte er nach Frankfurt zurück;3 am 26. September folgte seine Verhaftung in seiner Wohnung.4 Zunächst wurde er ins Gefängnis Frankfurt am Main (Klapperfeld) gebracht. Die Anklage lautete auf „Übertretung des Internationale-Bibelforscher-Verbotes“. 

Am 25. Mai 1937 fand gegen ihn und 9 weitere Zeugen Jehovas eine Sondergerichtsverhandlung statt; er wurde zu 7 Monaten Gefängnis verurteilt.5 Vom Gefängnis aus wurde er am 4. Juni 1937 in das KZ Lichtenburg gebracht und schließlich, am 30. Juli 1937, in das berüchtigte KZ Buchenwald überführt. Dort hatte er die Häftllingsnummer 768. Er musste Bäume fällen, im Straßenbau arbeiten, dann im Schachtkommando und schließlich als Koch. Einmal im Monat durfte er einen kurzen Brief mit vorgegebenem Inhalt nach Hause schicken. Die erlittenen Qualen und Misshandlungen durften nicht erwähnt werden. Auf der Rückseite jedes Briefes stand: „Der Schutzhäftling ist nach wie vor hartnäckiger Bibelforscher und weigert sich, von der Irrlehre der Bibelforscher abzulassen. Aus diesem Grund ist ihm lediglich die Erleichterung, den sonst zulässigen Briefverkehr zu pflegen, genommen worden.“ Der Ausdruck war für seine Ehefrau ein Zeichen, dass er seiner Überzeugung treu geblieben war.

Brief Rückseite vom 17.04.1941

Foto: Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa

Im Januar 1945 übertrug man ihm als Bäckermeister die Aufgabe, mit acht weiteren Häftlingen (alles Bibelforscher) in Apolda Brot zu backen und dieses, wegen der äußerst kritischen Verpflegungssituation im Konzentrationslager, nach Buchenwald zu transportieren. Die Bibelforscher, die einen lila Häftlingswinkel auf der Kleidung tragen mussten, waren im Lager stets als zuverlässig, neutral und hilfsbereit bekannt.

Jahre nach der Befreiung traf eine Zeugin Jehovas in ihrem Dienst in Frankfurt am Main einen jüdischen Mitbürger an, der erzählte, dass er im KZ Buchenwald mit Martin Bertram zusammentraf. Martin Bertram und weitere Bibelforscher (Zeugen Jehovas) sammelten und legten ihre Brotration zusammen um diesem damaligen Mithäftling Brot abzugeben. Dies war außerordentlich gefährlich, bei Entdeckung hätte das die Hinrichtung aller Beteiligten bedeutet. Dieser Bericht wurde von Ludwig Eichhorn, ebenfalls ein Zeuge Jehovas aus Frankfurt, der in Buchenwald inhaftiert war, bestätigt. Martin Bertram erlitt Misshandlungen in Form von Fußtritten und Stockschlägen dadurch behielt er unter anderem chronische Kopfschmerzen als Dauerschaden. Er wurde am 11. April 1945 aus dem Konzentrationslager Buchenwald nach insgesamt 104 Monaten Haft, mehr als achteinhalb Jahren, befreit. 

Als er nach Frankfurt zurück kehrte, stellte er fest, dass seine Bäckerei immer noch von Fremden betrieben wurde, er musste bei der Handwerkskammer beantragen, dass er seine eigene Bäckerei in der Rohrbachstraße zurück erhält. Außerdem war das Vorderhaus beschädigt, das Hinterhaus war total zerstört worden. In einer Eidesstattlichen Erklärung gab er an: „Hausschäden durch Luftkrieg: Hinterhaus Totalschaden, Vorderhaus beschädigt.“6 Er und seine Frau wohnten im 3. Stockwerk seines Hauses in der Rohrbachstraße 58.7 Als Berufswunsch (nach Verfolgung) gab er an: „Meine Bäckerei, noch durch ‚Mieter‘ T. G. besetzt.“8

Am 26. April 1946 schrieb die Betreuungsstelle für rassistisch, politisch und religiös Verfolgte an die Handwerkskammer Frankfurt: [Martin Bertram] „musste die Bäckerei wegen der drohenden Haft im Jahre 1935 aufgeben. Unter Verkauf eines Teils des Inventars vermietete er die Bäckerei an einen Herrn XXX [Name in dem Dokument genannt], der sie heute noch betreibt. Der 5 jährige [sic] Mietvertrag, der 1935 abgeschlossen wurde, lief am 30.12.1940 ab und wurde von Herrn Bertram nicht verlängert. Da Herr Bertram, der Bäckermeister ist, bis heute noch ohne Existenz ist, wird von hier aus dringend befürwortet, dass die Bäckerei ihm wieder zugewiesen wird.“9 Schließlich konnte er seine Bäckerei wieder eröffnen und betreiben. 

Im Hinterhaus entstand eines der ersten Gemeindezentren der Frankfurter Zeugen Jehovas nach dem Krieg. Am 26. Juni 1950 wurde ein Antrag auf den 1. Bauabschnitt für ein Hofgebäude (Saalbau als Gemeindezentrum für Jehovas Zeugen) für die Rohrbachstraße 58 gestellt. Am 5. September 1950 folgte der Antrag für den 2. Bauabschnitt im Hof und für Wohnungen im 2. OG (Rohrbachstraße 56). 1953 wurden an den Saal Toiletten angebaut.10

Zeitzeugen erinnern sich, dass das Ehepaar Bertram später im 2. Stockwerk des Hinterhauses, in einem Anbau des Gemeindezentrums, gewohnt habe.11 Einige von ihnen erinnern sich noch heute an seine Bäckerei: „Martin Bertram hat eine Backstube gehabt in den hinteren Zimmern Nr. 58. Vorne war eine Bäckerei.“12

Martin Bertram verstarb am 20. November 1988 im Königreichssaal [Gemeindezentrum] in der Rohrbachstraße 58 während eines Gottesdienstes. Der herbeigerufene Notarzt konnte dort nur noch seinen Tod feststellen.13

Vor seiner ehemaligen Bäckerei erinnert seit 2005 eine Bronzestele an ihn und die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der Stadt. Der Text lautet: „Im Haus Rohrbachstraße 58 lebte und arbeitete der Bäcker Martin Bertram, ein Zeuge Jehovas. Trotz Drohungen der Nationalsozialisten im Jahr 1933 versorgte er, seinem Gewissen folgend, weiterhin auch Juden mit Brot. Dafür erlitt er Geschäftsaufgabe, Gefängnis und 8 Jahre Haft im KZ Buchenwald. In Frankfurt wurden zwischen 1933 und 1945 mehr als 150 Zeugen Jehovas wegen ihres Widerstandes aus dem Glauben verfolgt, 15 von ihnen verloren dabei das Leben. Stadt Frankfurt am Main / NS-Opfergruppe Jehovas Zeugen.“


1 Eidesstattliche Erklärung von Martin Bertram, 15.09.1945 (Institut für Stadtgeschichte [IfS], Akten NS-Verfolgte, Sign. 485).

2 Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 28.09.1936 (Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden [HHStAW], Abt. 461, Nr. 7643).

3 Vgl. ebd.

4 Vgl. Anklageschrift beim Sondergericht Frankfurt, 24.02.1937 (HHStAW, Abt. 461, Nr. 7643).

5 Vgl. Urteil des Sondergerichts Frankfurt, 25.05.1937 (ebd.).

6 Vgl. Eidesstattliche Erklärung (Anm. 1).

7 Vgl. ebd.

8 Ebd.

9 Schreiben an die Handwerkskammer vom 26.04.1946 (IfS, Akten NS-Verfolgte, Sign.-Nr. 485).

10 Vgl. Telefonat von Erika Krämer mit Martin Binkele, 21.08.2018.

11 Vgl. Telefonat von Erika Krämer mit Horst Krüger, 20.08.2018.

12 Mail von W. Steinwachs an Erika Krämer, 21.08.2018.

13 Vgl. Mail von Horst Krüger an Erika Krämer, 21.08.2018.